Finsterland by Viktor Niedermayer

Finsterland by Viktor Niedermayer

Autor:Viktor Niedermayer
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2014-12-31T16:00:00+00:00


18

Sorgfältig drückt der Lehrling den Stempel auf die Briefmarke. Er wirft den Brief in den Korb, zieht den nächsten zu sich heran, richtet ihn so, dass die Marke rechts oben ist und presst den Stempel aufs Kissen. Bis jetzt hat ihm der Postler Nothaft stumm zugeschaut. Nun reißt er ihm alles aus der Hand und zeigt, wie man es richtig macht: Stempelkissen – wumm, Briefmarke – wumm. Er wird immer schneller und schneller, es rattert wie ein Maschinengewehr, das Echo hallt vom Gewölbe. Die Frauen stehen da und schauen zu, und der Lehrling wird rot. Punkt zwölf und punkt sechs haut er den Leuten den Schalter vor der Nase zu. Je länger die Reihe, umso zufriedener grinst er: «Das ist das Schönste an meinem Beruf.»

Der Postler Nothaft hat eine Naht vom Mund über die Wange bis hinauf zum Auge, doch dort ist nur eine Höhle, über die das Lid hängt. Die Hälfte seines Lebens war er beim Militär, der gefürchtetste Zwölfender vom Bataillon. Er braucht keine Frau, weil seine Mutter besser kocht als alle andern. Den Boeuf à la mode, den Haas in der Beiz, die Fingernudeln und die Maultaschen macht keine so gut wie sie.

Weil ich erst dreizehn bin, will er mich nicht in die Bergwacht aufnehmen. Dann sterben ihm so viele Bergwachtler weg, dass er mich doch noch in den Erste-Hilfe-Kurs vom Roten Kreuz schickt. Im Schulungsraum hängt das Bild vom Menschen: der rote und der blaue Blutkreislauf, die Aorta, das Herz, die Lunge, das Auge mit der Linse und der Pupille und der Querschnitt durch die Schädeldecke mit Stirn und Hinterkopf, und innen drin das Gehirn mit den vielen Windungen, wie die zusammengequetschten Schleifen der Donau.

In der ersten Stunde zeigt uns der Sanitäter, wie man einen Beinbruch schient: zwei Latten vom Zaun reißen, den Skistock mit einem Tritt brechen, ein paar Halstücher um das Bein herum, «und fertig ist die Laube», sagt er. Wenn von der Schlagader das helle Blut herausspritzt, muss man ein Holz in den Knebelverband stecken und fest zudrehen. «Nicht lange herummachen, aber immer wieder mal lockern», sagt der Sani. «Und wenn sich einer die Torlaufstange in den Bauch gerammt hat?» «Herausziehen!», rufen wir im Chor. «Falsch! Drin lassen, sonst verblutet er. Die Stange festhalten und absägen.»

Wir legen Kopfverbände an, doch sie rutschen uns über das Gesicht. Wir tappen mit ausgestreckten Armen wie die Gespenster herum und lachen. Wir bandagieren das Knie, doch es lässt sich nicht mehr abbiegen. Wir lachen noch lauter. Und wenn uns die Mullbinden über den Boden davonrollen, können wir mit dem Lachen nicht mehr aufhören. «Lacht’s nur, Bürscherl», sagt der Sani. «Bis ihr beim Himmelfahrtskommando z’Russland seid’s und dann im Massengrab beim Jesus.»

Sobald ich am linken Arm meine Bergwachtbinde habe, trage ich meine Ski nur noch auf der rechten Schulter. Alle sollen sehen, dass ich ein Bergwachtler bin. Nur schade, dass ich mich noch nicht rasieren muss und noch keine tiefe Stimme habe.

Beim Aufstieg zur Bergwachthütte an der Hofersäge werden die Schneeflocken immer größer, dann regnet es. In den Ackerfurchen steht das Wasser, in düsterem Violett hebt sich der Wald vom grauen Himmel ab.



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